Ich bin ein Kind der Stadt


Kind der Stadt


Ich bin ein Kind der Stadt

Ich bin ein Kind der Stadt. Die Leute meinen,
und spotten leichthin über unsereinen,
dass solch ein Stadtkind keine Heimat hat.
In meine Spiele rauschten freilich keine
Wälder. Da schütterten die Pflastersteine.
Und bist mir doch ein Lied, du liebe Stadt!

Und immer noch, sooft ich dich für lange
verlassen habe, ward mir seltsam bange,
als könnt' es ein besondrer Abschied sein;
und jedesmal, heimkehrend von der Reise,
im Zug mich nähernd, überläuft's mich leise,
seh' ich im Dämmer deine Lichterreihn.

Und oft im Frühling, wenn ich einsam gehe,
lockt es mich heimlich raunend in die Nähe
der Vorstadt, wo noch meine Schule steht.
Da kann es sein, dass eine Straßenkrümmung,
die noch wie damals ist, geweihte Stimmung
in mir erblühen macht wie ein Gebet.

Da ist der Laden, wo ich Heft und Feder,
den ersten Zirkel und das erste Leder
und all die neuen Bücher eingekauft.
Die Kirche da, wo ich zum ersten Male
zur Beichte ging, zum heiligen Abendmahle,
und dort der Park, in dem ich viel gerauft.

Dann lenk' ich aus den trauten Dunkelheiten
der alten Vorstadt wieder in die breiten
Gassen, wo all die lauten Lichter glüh'n,
und bin in dem Gedröhne und Geschrille
nur eine kleine, ausgesparte Stille,
in welcher alle deine Gärten blüh'n.

Und bin der flutend namenlosen Menge,
die deine Straßen anfüllt mit Gedränge,
ein Pünktchen nur, um welches du nicht weißt;
und hab' in deinem heimatlichen Kreise,
gleich einem fremden Gaste auf der Reise,
kein Stückchen Erde, das mein eigen heißt.

Anton Wildgans
1881-1932

Brigitte (Gast) - 27. Sep, 19:19

Ich bin auch ein Kind der Stadt

Dieses Gedicht suche ich schon seit Jahrzehnten. Es ist eine große Freude
für mich, es hier wiedergefunden zu haben.
Danke.

Hubert (Gast) - 13. Nov, 10:26

Altpfarrer

Ich kann das Gedicht seit meiner Kindheit fast gänzlich
auswendig, bin aber froh es wieder ganz gefunden zu haben.
Danke!
Ilse R. (Gast) - 7. Dez, 16:40

auch von mir herzlichen Dank, ich habe dieses Gedicht in meiner Schulzeit in den fünfziger Jahren gelernt (Wien) - oft daran gedacht - und es nie wieder wo gefunden. Leider hatte ich auch vergessen, wer der Verfasser der Zeilen war.

evelyne w. - 8. Dez, 18:41

ich freue mich sehr,

dass ich euch mit diesem gedicht (auch eines meiner lieblingsgedichte) freude machen konnte! ein bisschen wurde diese galerie seinerzeit auch dafür eingerichtet ;-)
ganz lieben gruß
evelyn

Niki (Gast) - 1. Jul, 00:29

...und ich wußte nur mehr den Anfang dieses Gedichtes, es spricht mir völlig aus der Seele, danke !

Trackback URL:
https://lyricgallery.twoday.net/stories/1056686/modTrackback

Die LYRIC GALLERY

Liebe Lyrik-Freunde!
Leider habe
ich in den letzten Jahren
viel zu wenig Zeit
für diese Seite gefunden.
Deshalb werde ich sie nun
"einfrieren“.
Da aber so viele schöne
Texte drauf sind,
lösche ich sie nicht,
sondern bestücke sie
nur nicht weiter.
Viel Freude beim
Immer-Wieder-Lesen!

Eure evelyne w.

Kommentare

Josef Mühlbacher Schock
Ich hab mich von dem Schock noch gar nicht erholt,...
Josef Mühlbacher (Gast) - 27. Okt, 18:24
auf dem kreuzweg
auf dem kreuzweg es trägt die zeit das kreuz beugt...
lyria - 3. Apr, 10:24
und steigt der eros aus...
und steigt der eros aus dem weinberg und aus dem...
evelyne w. - 23. Mai, 22:53
Ein blauer Ostergruß
Ein blauer Ostergruß Die Nacht war hell Reale Träume jagten...
evelyne w. - 30. Mär, 14:22
zum ende hin
zum ende hin will ich mich hoch strecken dir entgegen...
evelyne w. - 12. Feb, 21:32

Links


















User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 6767 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 12. Feb, 11:54

achim amme
adelbert von chamisso
alexander puschkin
angelika donant
angelika gentgen
anja millen
anne michallik
annette gonserowski
anton wildgans
beatrix brockman
birgit heid
birute rosemann
björn lindt
bruni markert
bruno meier
christa issinger
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren