johann wolfgang von goethe
Dem aufgehende Vollmonde
Willst du mich sogleich verlassen?
Warst im Augenblick so nah!
Dich umfinstern Wolkenmassen
Und nun bist du gar nicht da.
Doch du fühlst, wie ich betrübt bin,
Blickt dein Rand herauf als Stern!
Zeugest mir, daß ich geliebt bin,
Sei das Liebchen noch so fern.
So hinan denn! hell und heller,
Reiner Bahn, in voller Pracht!
Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,
Überselig ist die Nacht.
Johann Wolfgang von Goethe
1749-1832
Rastlose Liebe
Dem Schnee, dem Regen,
Dem Wind entgegen,
Im Dampf der Klüfte,
Durch Nebeldüfte,
Immer zu! Immer zu!
Ohne Rast und Ruh!
Lieber durch Leiden
Möcht ich mich schlagen,
Als so viel Freuden
Des Lebens ertragen.
Alle das Neigen
Von Herzen zu Herzen,
Ach, wie so eigen
Schaffet das Schmerzen!
Wie soll ich fliehen?
Wälderwärts ziehen?
Alles vergebens!
Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh,
Liebe, bist du!
Johann Wolfgang von Goethe
1749-1832
Suleika Nameh
Auszug
Wie mit innigstem Behagen,
Lied, empfind ich deinen Sinn!
Liebevoll du scheinst zu sagen:
Dass ich ihm zur Seite bin;
Dass er ewig mein gedenket,
Seiner Liebe Seligkeit
Immerdar der Fernen schenket,
Die ein Leben ihm geweiht.
Ja, mein Herz, es ist der Spiegel,
Freund, worin du dich erblickt;
Diese Brust, wo deine Siegel
Kuss auf Kuss hereingedrückt.
Süßes Dichten, laut're Wahrheit
Fesselt mich in Sympathie!
Rein verkörpert Liebesklarheit
Im Gewand der Poesie.
Johann Wolfgang von Goethe
1749-1832
Wechsel
Auf Kieseln im Bache da lieg ich, wie helle!
Verbreite die Arme der kommenden Welle,
Und buhlerisch drückt sie die sehnende Brust;
Dann führt sie der Leichtsinn im Strome danieder,
Da naht sich die zweite, sie streichelt mich wieder;
So fühl ich die Freuden der wechselnden Lust.
Und doch, und so traurig, verschleifst du vergebens
Die köstlichen Stunden des eilenden Lebens,
Weil dich das geliebteste Mädchen vergißt!
O ruf sie zurücke, die vorigen Zeiten!
Es küsst sich so süße die Lippe der Zweiten,
Als kaum sich die Lippe der Ersten geküsst.
Johann Wolfgang von Goethe
1749-1832
Moganni Nameh
Auszug aus "Selige Sehnsucht"
Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde
Johann Wolfgang von Goethe
1749-1832
Suleika Nameh
Auszug
Hochbeglückt in deiner Liebe,
Schelt ich nicht Gelegenheit,
Ward sie auch an dir zum Diebe,
Wie mich solch ein Raub erfreut.
Und wozu denn auch berauben?
Gib dich mir aus freier Wahl;
Gar zu gerne möcht ich glauben:
Ja, ich bins, die dich bestahl.
Was so willig du gegeben,
Bringt dir herrlichen Gewinn:
Meine Ruh, mein reiches Leben
Geb ich freudig, nimm es hin!
Johann Wolfgang von Goethe
1749-1832